Dieter Wellershoff im Porträt
Für den Schriftsteller Dieter Wellershoff ist das ganze Leben eine Versuchsstrecke. In seinem Fall: ein Leben aus und für die Literatur. Nun hat der Kölner Wahlbürger zu seinem 88. Geburtstag auch ein faszinierendes Buch zur Kunst herausgebracht.
Die Kölner Zentralbibliothek am Neumarkt, 2. Stock, Literatur und Sprachen. Der Rollwagen vor mir ist dicht bepackt mit Mappen. Auf den Pappdeckeln stehen Begriffe wie "Die Schattengrenze", "Schneelandschaft" oder "Der Liebeswunsch". Dies sei nur ein Teil der Dokumentation zu Dieter Wellershoff, so die Literaturwissenschaftlerin Dr. Gabriele Ewenz. Sie leitet das LiK, eines der großen Literaturarchive von NRW (siehe Infokasten rechts unten).
Kölner Bürger seit über 50 Jahren
Geboren am 3. November 1925 in Neuss, aufgewachsen in Grevenbroich. Und seit mehr als 50 Jahren Bürger der Stadt Köln. 1977 bezog Dieter Wellershoff mit seiner Familie eine Wohnung in der Südstadt, in der er weiterhin wohnt. "Wir können uns sehr beglückt fühlen, dass wir einen Autor mit dem Kaliber von Dieter Wellershoff hier in Köln haben", so Ewenz. Seine Bedeutung für das geistige Leben dieser Stadt ist beachtlich. Wellershoff verfasste Erzählungen, Romane, Lyrik, Hörspiele und sogar Drehbücher.
Ein brillanter Essayist
Eine neunbändige Werkausgabe dokumentiert all dies eindrücklich. Seine über 40 Bücher gibt es in 15 Sprachen. Kaum mehr zu überschauen ist seine publizistische Tätigkeit als Literaturkritiker und engagierter Kommentator der Zeitgeschichte. Wellershoff ist ein brillanter Essayist und Redner. Wenn er über Literatur und Ästhetik spricht, ist der Saal garantiert voll. Gerade ist noch ein umfangreiches Buch zur Kunst erschienen, "Was die Bilder erzählen" (zur Rezension).
Literatur ist gefährlich!
Wirklichkeit und Wahrnehmung: dies sind Leitthemen im Werk von Wellershoff. Als Lektor bei Kiepenheuer & Witsch ab 1959 sorgte er mit vielen jungen Autoren für eine nachhaltige Modernisierung des Verlagsprofils. Literatur muss irritieren und gefährlich sein. Das hatte er auch am französischen Nouveau Roman gelernt. Deshalb förderte er so unterschiedliche Talente wie Heinrich Böll und Rolf Dieter Brinkmann.
Ihm selbst blieb der große literarische Erfolg lange Zeit verwehrt. Die öffentliche Anerkennung als Autor kam erst 1988 mit dem Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln. Viele namhafte Auszeichnungen folgten. 2000 erschien Der Liebeswunsch, sein erzählerisches Meisterstück. Mit dem Roman über die zerstörerische Kraft eines Ehebruchs erreichte er, auf den Spuren von Goethe und Flaubert, endlich auch das große Publikum.
Krisen, Ängste, Illusionen
Journalist, Abteilungsleiter beim Rundfunk oder Universitätsprofessor: all dies habe er werden können, all dies habe er ausgeschlagen, so Wellershoff. Für das Wagnis der Literatur. Seine ganze Literaturtheorie basiert auf dem einen Gedanken: "die Literatur ist eine imaginäre Probebühne, um Risiken und Gefahren durchzuspielen", bis hin zu den extremsten Konsequenzen, die wir in der Praxis lieber meiden.
So lässt der bekennende Hypochonder Wellershoff die meist bürgerlichen Figuren seiner Erzählungen und Romane die eigenen Krisen, Ängste und verlorenen Illusionen durchleben. "Ich habe immer über Menschen geschrieben, die sich in Krisen befinden, die einer Phantasie folgen, die irgendetwas Extremes wollen und daran scheitern: solche Situationen habe ich bevorzugt".
Das Leben als Dunkelkammer
Wir sind wie zufällig in dieses Leben geworfen, müssen versuchen, das Beste daraus zu machen. Der französische Existentialismus hat in seinem Denken starke Spuren hinterlassen, ebenso der Lyriker Gottfried Benn, über den er 1952 promoviert. "Das Private ist eine Dunkelkammer", heißt es 2005 in seinem Erzählband Das normale Leben.
Einschneidend die Erfahrungen als junger Soldat im II. Weltkrieg. In seinem autobiographischen Roman Der Ernstfall berichtet er 1994, wie er als 17- bis 19-jähriger Kriegsfreiwilliger das Ende des Konflikts erlebte und überlebte. Der Krieg habe ihn gelehrt: "Es ist nichts garantiert im Leben. Und ich habe eine starke Skepsis gegen alles Kollektive, gegen vorherrschende Meinungen entwickelt."
Illusionsloser Chronist unserer Zeit
Der Himmel ist kein Ort: der Titel seines bisher letzten Romans von 2009 über einen jungen, von Selbstzweifeln gequälten Pfarrer macht Wellershoffs illusionslosen Lebensbegriff deutlich. "Eine einzige Möglichkeit hat man. Das Leben ist eine Versuchsstrecke. Wenn man scheitert, kann man es nicht revidieren." So das mutige Credo eines Mannes, der sich zugleich Vielfalt und intellektuelle Unabhängigkeit bewahrt hat. Als fantasievoller Erzähler und scharfsichtiger Chronist seiner Zeit, seit nunmehr sechs Jahrzehnten. Wir gratulieren zum Geburtstag! (Roberto Di Bella)