
Was die Bilder erzählen
Es ist ein opulentes Geschenk, das Dieter Wellershoff sich und seinen Lesern zum 88. Geburtstag macht. In seinem neuesten Buch "Was die Bilder erzählen" führt uns der Kölner Autor und Essayist durch die Säle seines imaginären Museums und zeigt uns die Malerei der letzten 550 Jahre.
"Dieses Buch ist eine Überraschung", schreibt der Verlag im Klappentext. Doch eigentlich ist es die Dokumentation einer alten Leidenschaft. Denn Wellershoff studierte ab 1947 an der Universität Bonn nicht nur Germanistik und Psychologie, sondern auch Kunstgeschichte (zum Porträt). Immer wieder ist er seitdem in seinen Romanen, Erzählungen oder Essays auf Aspekte der bildenden Kunst eingegangen. So ausführlich wie jetzt hat er sich dem Thema Malerei bislang aber noch nie gewidmet.
Über 230 Gemälde von der Renaissance bis heute
Von der Renaissance bis zur Gegenwartskunst spannt sich der Bogen. Mit Texten zu fast 80 Künstlern und über 230 farbigen Abbildungen, von Antonello da Messinas "Il condottiere" (1475) bis zu Neo Rauchs "Sucher" (1997). Doch trotz des Umfangs von über 350 Seiten ist das Werk kein Lehrbuch, sondern eine sehr persönliche Annäherung. Wie aber soll sich der Leser und Betrachter in dieser Fülle orientieren? Der Rat des Autors: wie in einem Museum, der eigenen Neugier folgend. Denn das "Herumstreunen zwischen den vielen Bildern entspricht der Vielgestaltigkeit der Malerei".
Dürer, Messina, Botticelli und kein einziges Heiligenbild
Zugleich gelingt es Wellershoff, selbst komplexe kunstgeschichtliche Entwicklungen anschaulich und prägnant darzustellen. Der Schwerpunkt liegt dabei eindeutig auf der europäischen Tafelmalerei. Der Rundgang beginnt bei Malern wie Antonello da Messina, Botticelli und Dürer. In ihren Landschaftsbildern und Porträts wird für Wellershoff das wirkliche Leben abgebildet: "nicht was nur geglaubt werden muss, sondern was gesehen werden kann". Religiöse Motive fehlen deshalb völlig im Panorama des Skeptikers. Welt und Wahrnehmung als formbares Material: das interessiert den Kunstkenner wie den Schriftsteller. "Wir schauen in die Vergangenheit und die Vergangenheit schaut zurück." Die literarisch anspruchsvollen Beschreibungstexte machen dabei den besonderen Reiz des Buches aus.
Verletzlichkeit, so beängstigend wie anziehend
Manche Bilder erfasst er mit wenigen Worten. So im Fall von Oskar Kokoschkas Aquarell "Sitzendes Mädchen" von 1922/23: "Skeptisches Beobachten / Geduldiges Warten / Selbstvergessenheit". Andere Texte geraten zu kleinen Erzählungen oder psychologischen Skizzen. Porträts faszinieren Wellershoff besonders. Oftmals steht dabei, wie in seinen Romanen und Erzählungen, das Individuum als leidendes oder scheiterndes Wesen im Fokus. Die Erfahrungen als kaum volljähriger Soldat im II. Weltkrieg haben seine Wahrnehmung unwiderruflich geprägt, betont Wellershoff immer wieder. Leichen und Feuerstürme, Exekutionen und Explosionen: Es ist die Verletzlichkeit des menschlichen Lebens, die ihn ebenso beängstigt wie anzieht. Das machen auch einzelne Kapitelüberschriften deutlich: "Monstruosität und Menschlichkeit" (Velázquez), "Ballungen der Sprengkraft" (Vincent van Gogh) oder "Die menschliche Nacktheit" (Lucien Freund).
Menzel: kleinwüchsig und großartig
Beim Gang durch die Bildersäle ermöglicht uns Wellershoff auch manche Neu- oder Wiederentdeckung: die hochmodernen Landschaftsaquarelle Albrecht Dürers z.B. oder die bewegenden Genreszenen des Russen Ilja Repin (1844-1930). Besonders fasziniert scheint Wellershoff von Adolf Menzel (1815-1905). Der heute etwas in Vergessenheit geratene Chronist des Wilhelminischen Zeitalters ist gleich mit 25 Arbeiten im Buch vertreten. Über den nur 1,40 m großen Maler heißt es: "in nie erlöschender Neugier und Vitalität erschloss er sich immer wieder neue Themenwelten und Perspektiven". Es wirkt wie eine Selbstbeschreibung, wie überhaupt sich Wellershoff oftmals in den Malern spiegelt.
Abstrakte Kunst? Naja!
Wellershoff geht natürlich auch auf die Entwicklung der abstrakten Kunst ein: von Delaunay bis Rothko, von Malewitsch bis Evans. Gerhard Richter, der wohl berühmteste deutsche Künstler unserer Zeit, erhält breiten Raum. Zugleich wird deutlich, wie er sich an diesen Bildkonzepten reibt. "Die Innovation verschiebt sich auf die Machart", heißt es einmal scharfzüngig. Bereits in den 1970er Jahren, als es hieß "Alles ist Kunst, jeder ist ein Künstler", schrieb Wellershoff ein Buch über "Die Auflösung des Kunstbegriffs". Der Abschied vom Figurativen und die Loslösung von der Form sind für ihn letztlich nur ein interessantes Zwischenspiel. Dem Selbstverständnis zeitgenössischer Kunst, die eben nicht mehr allein malerischen Ideen folgt, sondern Konzepten, Selbstzerstörungen und Prozessen, wird er damit nicht immer gerecht.
Irre und Betrunkene, Wellen und Schnee
"Für die bildliche Darstellung menschlicher Situationen kommt es vor allem auf die in seiner Lebenserfahrung wurzelnde Vorstellungskraft und das Einfühlungsvermögen des Malers an". Gerade weil Dieter Wellershoff in seinem schriftstellerischen Werk immer wieder über Scheitern, Tod und Vergänglichkeit nachdenkt, hat er sich auch im neunten Jahrzehnt seines Lebens das Staunen über die Wirklichkeit bewahrt. Es ist dies vielleicht das Geheimnis seiner Kreativität. Und so schreibt er in seinem aktuellen Buch über Betrunkene und Irre in der Kunst ebenso fasziniert wie über Wellen oder Schneelandschaften. Zu einem Selbstbildnis des alten Rembrandt von 1661 heißt es: "Er schaut einen mit Augen an, die viel von der Welt und den Menschen gesehen haben. Doch seine gerunzelte Stirn und sein fragender Blick scheinen alles in Zweifel zu ziehen. Rembrandt war zweifellos ein glücksfähiger Mensch von großer Vitalität und einer nie nachlassenden Schöpferkraft. Und er hat viele Menschen von sich überzeugt, weil er ein Leben gelebt hat, das ganz sein eigenes war." (Roberto Di Bella)