
Legende vom Mönch des Klosters Heisterbach
Mitten im Wald liegt die Klosteranlage Heisterbach. Bei einem Spaziergang durch den Garten mit seinen Weihern, alten Gräbern und Gemäuern verliert der Besucher leicht das Gefühl für die Zeit. So erging es vor vielen hundert Jahren auch dem Mönch Ivo, der einst durch die alte Tür in der Klostermauer ging und verschwunden sein soll.
„Gott ist erhaben über Zeit und Raum!“ so steht es über besagter Tür geschrieben. Wer durch die Tür hindurchtritt, bekommt leicht den Eindruck, in einer anderen Welt zu landen. Gepflegter Klostergarten hier, unberührter Wald dort.
Glaubt man der alten Legende, so schlenderte Mönch Ivo eines Tages durch den Garten und dachte angestrengt über die Worte des Apostels Petrus nach: „Ein Tag ist vor dem Herrn wie tausend Jahre und tausend Jahre wie ein Tag.“ Er verstand die Worte nicht und geriet darüber in tiefe Zweifel. Die anderen Mönche winkten ab und sagten vermutlich so etwas wie: „Mach Dich nicht verrückt. Man kann eben nicht alles verstehen!“.
Doch Mönch Ivo fand keine Antworten auf seine Fragen und spürte, wie er den Glauben an Gott verlor. Für Dich klingt das vielleicht gar nicht so schlimm, doch glaube mir: für einen Mönch sind das dramatische Aussichten!
Vogelgesang und Türenknallen
In dieser Stimmung lief Mönch Ivo nun also durch den Garten, schaute nicht nach rechts und nicht nach links sondern hing ganz seinen Gedanken nach. Wahrscheinlich hatte er so etwas wie Heimweh, denn für einen Mönch ist Gott so etwas wie die Heimat und wenn ein Mönch nicht mehr glaubt, dann fühlt er sich verloren.
Plötzlich aber erklang etwas, das Ivo noch nie gehört hatte. Er sah sich um und entdeckte über sich im Baum einen wunderschönen Vogel in den Farben des Regenbogens. Ivo lauschte gebannt, doch das Tier erhob sich nach kurzer Zeit, flog vom Baum und ließ sich ein Stück weiter auf der Mauer nieder. Mönch Ivo folgte dem schönen Vogel, bis der wieder abhob und im Wald hinter der Mauer verschwand.
Und da war plötzlich eine Tür, die Ivo vorher nie aufgefallen war. Er durchtrat sie und sie fiel hinter ihm ins Schloss. Der Mönch lief in den Wald und bald hörte er den Vogel im Wipfel einer hohen Buche, setzte sich unter den Baum und fühlte sich endlich wieder wohl, als prassele das Glück auf ihn herunter.

Ein aufgeweckter Mönch
Plötzlich schreckte Ivo auf. Der Vogel war verstummt, stattdessen hörte der Mönch die Klosterglocken. Er musste unter der Buche eingeschlafen sein. Leider fand er die Tür nicht wieder und so lief er um das Kloster herum zur Hauptpforte. Dort ließ ihn ein Mönch ein, den er noch nie zuvor gesehen hatte. Sonderbar, was?
Die Mönche hatten sich bereits zum Gebet in der Abtei versammelt, doch auf seinem Platz in der Bank saß schon jemand und auch den kannte Ivo nicht. Als alle aufschauten, stellte Ivo mit Erschrecken fest, dass er niemanden erkannte. Ein Mönch fragte nach seinem Namen und wurde ganz bleich, als Ivo ihn nannte.
Vor 300 Jahren, zu Zeiten des Kölner Erzbischofs Engelbert von Berg, da solle es einen besonders gelehrten Mönch mit diesem Namen gegeben haben, berichtete der fremde Mönch. Man erzähle sich über ihn, er sei eines Tages einfach im Wald verschwunden. Mönch Ivo stand da, wie vom Blitz getroffen und begann, zu verstehen.
Was sich für ihn angefühlt hatte wie ein kurzes Schläfchen, war für die restliche Welt eine halbe Ewigkeit gewesen! Aus seinen Augen liefen Tränen als er sagte: „Danke, Herr! Du hast mir meinen Glauben zurückgegeben! Gott ist erhaben über Zeit und Raum!“. Dann legte Ivo sich auf den Boden der Kirche, lächelte und starb als gläubiger Mann.
Über die Legende
Die Legende um den Mönch Ivo wird in ähnlicher Form auch in Spanien erzählt: In dem Kloster von Leyre im ehemaligen Königreich Navarra erzählt eine Geschichte ebenfalls von der Ewigkeit, der Natur und der Relativität der Zeit. Bloß heißt der Mönch dort Virila, so wie der Gründer des Klosters. Dieses wird heute von Benediktinern bewohnt, ist ursprünglich aber genauso ein Zisterzienserkloster wie das Kloster Heisterbach.
Ob die Mönche sich vielleicht von den Philosophen inspirieren ließen? Laut Diogenes Laertius soll der griechische Philosoph Epimenides 57 Jahre geschlafen haben. Als er erwachte, suchte er zunächst seine Schafe weil er dachte, er habe bloß ein Nickerchen gemacht. In seinem Haus lebte allerdings inzwischen eine neue Familie und erst als er seinen jüngeren Bruder fand, der längst ein alter Mann war, erfuhr er die Wahrheit und wurde berühmt als ein Zeichen des Himmels.
Von der Legende von Ivo ließ sich aber auch jemand inspirieren: Der Dichter Wolfgang Müller von Königswinter (1816-1873) schrieb ein Gedicht mit dem Namen „Der Mönch von Heisterbach“.
Ob wiederum Albert Einstein bei seiner Relativitätstheorie an Mönch Ivo dachte, das wissen wir nicht. Die Tür in der Mauer gibt es jedenfalls bis heute! (Julia Schulz)