
Et hätt (noch immer) jot jejange
Sie hat kurz vor dem Bombenhagel sorglos am Barbarossaplatz gespielt. Dann kam Adenauer und sie arbeitete fortan als Verkäuferin. Heute ist sie die kölschste Seele im Seniorenheim. Franziska Funk hat viel Glück gehabt im Leben. Und erzählt, wieso sie selbst im Krieg ihren Glauben nicht verlor.
Köln, 1938. Die Köln-Bonner-Eisenbahn rattert zum Barbarossaplatz. Franziska leckt sich noch schnell die Lakritz vom Handrücken und blickt hoch. "Los!", schreit sie. Startschuss für alle Straßenkinder. Wer schafft es als Erster, auf die Trittsteige der weißen Bahn aufzuspringen?
Hüppekästchen
Wenn Franziska Funk erzählt, ist ihr Alter vergessen. Noch immer strahlt die 82-Jährige kindliche Freude aus. "Ach du liebe Zick!", seufzt sie. "Wat haben wir jespielt! Seilchenspringen, Hüppekästchen, Dilledop,...". Unbeschwerte Spiele für sie, ihre Schwester Eva und ihre Freunde. Kindertage in der Südstadt, ahnungslos vom nahenden Krieg.
Aufrecht sitzt sie in ihrem Rollstuhl, zugewandt und mit offenem Gesicht. Die Zeiten wandeln sich. Deutschland ist auf Krieg gesinnt. Mutter Ursula, "Lina", bringt Otto zur Welt. 1941 wird Vater Jakob, der ruhende Pol der Familie, eingezogen. Er geht als Sanitäter an die Westfront.
Butter – wertvoller als Gold
Der Vater ist wechselweise in Holland, Belgien und Frankreich im Einsatz. Und kümmert sich aus der Ferne um seine Familie. Jeden Tag trifft ein Paket ein. Der Inhalt ist kostbarer als Gold: Eine Kugel Butter, eingeschlagen in Zeitungspapier, mit Packpapier umhüllt. Das Ganze geschützt in einem Weißkohlbehälter. Die Mutter tauscht einen Teil davon in Brot, Gemüse oder andere Waren um. Genug zu essen im Krieg: Ein Luxus.
"Komischerweise habe ich nie Angst gehabt um meinen Vater", sagt Funk. Der schickt seiner Franziska ein Bild von sich zum Namenstag. Franzi ist begeistert. Ihr Vater in Uniform. Er bekommt einen Ehrenplatz an der Wand zwischen den zwei Fenstern in der Küche. Wenn sie sich fürchtet, ist er da, ihr Papa, der immer so gut trösten kann.
Scherben – und das Bild
1944. Bombenhagel geht auf Köln nieder. Mutter, Franziska und ihre Geschwister ziehen von Luftschutzbunker zu Luftschutzbunker. Auch ihre Wohnung wird zerfetzt. Funk erinnert sich: "Da war kein Glas mehr, keine einzige Tasse stand mehr im Regal". Und im ganzen Chaos fällt ihr Blick auf die Wand – das Bild vom Vater, es ist völlig unversehrt! Franzi ist sich gewiss: "Unser Papa kommt wieder". Sie nimmt das Bild und drückt es an sich.
Funk blickt aus dem Fenster. Von ihrem Zimmer aus im Wohnheim der Sozialbetriebe Köln schaut sie auf eine Allee. Die Bäume tragen schon Knospen. "Mein Vater war ein ruhiger, aber sehr lebensfroher Mensch", sagt Funk. Eigenschaften, die auch die Tochter in sich trägt.
In einer Badewanne über das Meer
Zurück in die Vergangenheit: Eines Morgens erzählt die Mutter von einem seltsamen Traum: Jakob schipperte in einer Badewanne über das Meer. Was hat das zu bedeuten? Vom Vater haben Franziska und ihre Familie schon lange nichts mehr gehört. Dennoch hat Franzi im Gefühl: "Alles ist jot". Das Bild vom Vater begleitet sie, wohin sie auch gehen. Wie viele Kölner flieht die Mutter mit den Kindern vor den Bomben in der Großstadt. Sie flüchten nach Sachsen, Schlesien, Österreich, bis sie schließlich in Edderitz bei Köthen, Sachsen-Anhalt, ankommen. Dort erlebt die Familie das Kriegsende. Ein weiteres Mal packt die Mutter die wenigen Besitztümer in die Taschen – es soll zurück in die Heimat gehen.
Von Edderitz nach Köln – zu Fuß. 409 Kilometer Luftlinie. Taschen und Koffer sind auf einem Handwagen festgezurrt. Otto, 5 Jahre alt, sitzt obenauf. Die Mutter, Franziska und Eva ziehen abwechselnd den Wagen. Not macht Diebe – ab und an verschwindet Gepäck vom Wagen. Der Koffer mit dem Bild vom Vater aber bleibt unberührt. Nachts schläft die Familie mal in Scheunen, mal in einem abgestellten Güterwaggon. Wie schön, nach vielen Wochen endlich in der Heimat anzukommen!
Die Familie kommt zunächst in Köln unter, wird von den Amerikanern aber bald in Westfalen untergebracht. Sie wohnen auf einem Bauernhof, müde und hungrig von den Wirren des Kriegs. Die Neuen werden anfangs geschnitten: Die Dorfbewohner schimpfen, wenn Mutter und Töchter um Mehl oder Kartoffeln bitten.
Wiedersehen in Köln
Doch das Leben fügt sich. Franziska beginnt eine Lehre als Weberin. Eva und Otto gehen zur Schule. Plötzlich kommt die erlösende Nachricht: Der Vater lebt! Er ist in Kriegsgefangenschaft bei den Engländern. Der Traum der Mutter, noch vor Jakobs Überfahrt nach Großbritannien – ein Zufall? 1948 kehrt er zurück. "Meine Mutter ist am Bahnhof zuerst vorbeigelaufen an ihm", erinnert sie sich. 17 Jahre alt ist Franziska, als sie den Vater wieder in die Arme schließt. Erwachsen geworden durch den Krieg. Nun muss sie sich an die neue Situation gewöhnen. "Wir waren ja noch Kinder, als der Vater ging", sagt Funk. Die Familie ist vereint und zieht gemeinsam nach Köln. Franziska Funk hat Recht behalten: Et hätt jot jejange.
Zurück ins Heute
Das Bild vom ihm, den jungen Mann in Uniform, steht inmitten anderer Erinnerungen auf einem Tisch. "Ich bin mit allem, was ich habe, zufrieden", sagt Funk geradeheraus. Das Leben hat es gut mit ihr gemeint. Funk betrachtet es als Dankeschön. "Ich bekomme das wieder, was ich mal gegeben habe." Besuch geht bei ihr ein und aus. Sie telefoniert gerne und nutzt Angebote des Heims. Unter Menschen zu sein tut ihr, der Kölnerin, so richtig gut.
Über Franziska Funk
Franziska Funk, 82 Jahre alt, ist eine waschechte Kölnerin. "Ich bin met Kölschbier und Rhingwasser jedäuft", sagt sie. Viele Bücher hat sie gelesen über ihre Heimat. Und gilt als Ansprechpartnerin für sämtliche Fragen rund um die geliebte Domstadt. Als zweite Vorsitzende setzt sie sich im Seniorenbeirat für die Belange der Heimbewohner ein. Funk hat als Verkäuferin gearbeitet und war zwei Mal verheiratet.
Text und Fotos: Birgit Kleber