Marie Juchacz: Politikerin der ersten Stunde

Ein großes Thema war in den Medien zuletzt #MeeToo und das seit 100 Jahren bestehende Frauenwahlrecht in Deutschland. Kurioserweise sprach und spricht aber kaum jemand über die Gründerin der Arbeiterwohlfahrt Marie Juchacz. Dabei brachte sie damals die gesamte konservative Gesellschaft in Wallung. Mit Themen wie Verhütung und § 218. Ihre letzte Ruhe fand sie auf dem Kölner Südfriedhof.

Bei der ersten Wahl am 19. Januar 1919 nahmen immerhin 80 Prozent der Frauen ihr neues Recht wahr. 300 Frauen kandidierten. 37 von ihnen zogen in die Weimarer Nationalversammlung ein. Und eine der Politikerinnen der ersten Stunde war die Sozialdemokratin Marie Juchacz. Sie hat als einzige Frau am Entwurf der Verfassung des Deutschen Reiches mitgeschrieben. Und als erste Frau eine Rede in der Nationalversammlung gehalten. Das klang damals so:

„Meine Herren und Damen!“ (Heiterkeit.) „Es ist das erste Mal, dass eine Frau als Freie und Gleiche im Parlament zum Volke sprechen darf. Und ich möchte hier feststellen, ganz objektiv, dass es die Revolution gewesen ist, die auch in Deutschland die alten Vorurteile überwunden hat.“

Textilarbeiterinnen, wehrt euch!

Textilarbeiterinnen, wehrt euch! In die SPD tritt Juchasz schon 1908 ein, inspiriert von ihrem älteren Bruder. Die Genossen hören sie reden und sind begeistert. Als Frauensekretärin animiert sie in Folge Textilarbeiterinnen für den Eintritt in die SPD. 1913 von Köln aus, 1917 dann von Berlin aus als Mitarbeiterin im zentralen Parteivorstand.

Ihren sozialen Aufstieg erkämpft Juchacz sich selbst. Als Marie Gohlke kommt die Tochter eines Zimmermanns 1879 in Landsberg an der Warthe auf die Welt. Nach der Volksschule arbeitet sie als Dienstmädchen, Krankenpflegerin und vorrübergehend laut awo.org auch als Wärterin der „Provinzial-Landes-Irrenanstalt“. Mit 19 Jahren beginnt sie eine Lehre zur Schneiderin. Ihren Mann, den Schneidermeister Bernhard Juchacz, verlässt Marie Juchacz 1906 und zieht mit ihren beiden Kindern nach Berlin. Dort schneidert sie und engagiert sich bereits in der verbotenen politischen Arbeit für Frauenrechte. Verboten, denn Frauen ist damals laut Vereinsgesetz jegliche Teilnahme an selbigen untersagt. Ihre Rhetorik kommt im Untergrund bereits gut an.

AWO, Verhütung und § 218

Die Politikerin und Sozialarbeiterin leitet während des 1. Weltkrieges die Redaktion des linken Magazins „Die Gleichheit. Zeitschrift für die Frauen und Mädchen des werktätigen Volkes“. 1919 gründet sie dann die „Arbeiterwohlfahrt“ (AWO). Dort erhebt sie ihre Stimme für die Solidarität und bringt das konservative Bürgertum gegen sich auf. Mit Themen wie Hilfe für ungewollt Schwangere und Empfängnisverhütung.

In ihrem Artikel „Sexualberatung ist eine Aufgabe der Arbeiterwohlfahrt“ (1929) schreibt sie über die Aufklärung: „Man mag die Wohnungsnot und –enge in Verbindung mit anderer sozialer Not auf sich wirken lassen und zu dem Schluss kommen, dass es für weite Schichten der Bevölkerung gegenwärtig kaum ein anderes Mittel der Selbsthilfe gibt, als das der Geburtenbeschränkung.“ In dieser Zeit gibt es bis zu 1.000.000 Abtreibungen. Pro Jahr.

Juchacz hält von Abtreibung nicht viel. Noch weniger aber davon, das zu bestrafen. So macht sie deutlich in Artikeln wie „Stimmen gegen den §218“.

Vom Exil zum Ehrenvorsitz

Von 1933 an ist Juchacz 16 Jahre im Exil. Sie zieht sich zunächst ins Saarland zurück, später ins Elsaß. Mit Beginn des 2. Weltkrieges flieht sie nach Paris und schließlich nach New York. Dort gründet sie 1945 die „Arbeiterwohlfahrt USA – Hilfe für die Opfer des Nationalsozialismus“ und lässt Hilfspakete in das zerstörte Deutschland liefern.

Zurück in der Heimat wird sie 1949 Ehrenvorsitzende der AWO mit damals bereits 300.000 Mitgliedern (heute 333.000). 1956 stirbt Marie Juchacz im Alter von 77 Jahren in Düsseldorf. Das Familiengrab auf dem Kölner Südfriedhof teilt sie mit ihrer politisch ebenfalls aktiven Schwester Elisabeth Röhl und deren Mann Emil Kirschmann.

In Berlin-Kreuzberg, unweit des einstigen Standorts der AWO-Zentrale, steht seit August 2017 ein Denkmal für Marie Juchacz. Die Skulptur trägt die Worte „Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Toleranz und Solidarität“. Seit der Einführung des Frauenwahlrechts hat sich die Frauenquote von 8,7% in der Weimarer Nationalversammlung bis auf 30,7% im Bundestag 2017 erhöht. 100 Jahre später sind „Gleichheit“ und „Gerechtigkeit“ aber immer noch nicht erreicht. Marie Juchacz Engagement ist so aktuell wie je zuvor. Auch wenn kaum jemand mehr den Namen kennt.

Zahlreiche Straßen und Wohnheime sind nach ihr benannt, auch ein Ort in Köln, das Bildungszentrum des „Marie-Juchacz-Pflegezentrum Kölner Norden“. Wo es so schöne Kurse gibt wie „Vertiefungstage für Alltagsbegleiter*innen“. (Claudia Krapp)